Mittwoch, 28. Oktober 2020

Bald 60 - 32

Das Lesen habe ich mit einem Schreibschriftbuch gelernt.

Ich sehe mich noch auf der Kücheneckbank sitzen, während ich der kochenden Mutter, also ihrem Rücken, etwas daraus vorlese.

Eine Zeitlang brauchte sie starke Nerven beim Zuhören, weil ich mehr gestammelt als gelesen habe.
Und doch habe ich das flüssige Lesen ziemlich schnell gelernt.
Und als ich es konnte haben wir jede Woche in der Pfarrbücherei Bücher für mich ausgeliehen.

Ich habe enorm viel gelesen und alles mit- und nacherlebt, was ich las.
Egal, ob ich es verstand oder nicht. Egal für welches Alter die Bücher geschrieben waren und egal wie dick oder dünn sie waren.

Die Eltern waren Mitglied in einem Bücherclub und bekamen regelmäßig neue Bücher. Außerdem gab es Readers Digest Hefte und jede Menge Bücher von, ich glaube auch, Readers Digest, in denen sich jeweils vier verkürzte Romane befanden. Ich habe alles gelesen, was im Bücherschrank stand.

Zu Weihnachten und anderen Festen durfte ich mir selbst Bücher aussuchen, die ich dann geschenkt bekam.
Über die Jahre habe ich ein Buch, dessen Titel mir immer noch entfallen ist, zufällig dreimal ausgesucht. Darin ging es um ein blindes Mädchen und ihre Art die Welt wahrzunehmen und ihr Leben zu leben.

Das Buch habe ich immer erst erkannt, wenn ich bereits mit dem Lesen begonnen hatte. Äußerlich hat es sich mir nicht zu erkennen gegeben.

Mit diesem Mädchen habe ich mich sehr identifiziert. Ich stellte mir das, auch für mich, schön vor, nicht zu sehen, was ich sah.
Niemals sagte jemand zu ihr, dass das, was sie sieht, nicht sein kann, weil ihr das ja gar nicht möglich war. Jedenfalls nicht mit den körperlichen Augen. Ein herrliches Leben. Fand ich.

Ihr wurde die Welt von den anderen so beschrieben, wie die sie sahen, und sie nahm das genau so an. Was für ein Frieden. Wohl auch in ihr.

Sie sah sich und die Welt mit den Augen der anderen und da sie dem ja keinen eigenen Blick entgegensetzen konnte, gab es keinen Konflikt.
Das habe ich mir für mich auch gewünscht.

Stattdessen habe ich mich zur Konfliktvermeidung lange Zeit in die Bücher, und so in die Fantasien ihrer Autoren geflüchtet und oft darin verloren.

Bis mich später meine Psychotherapeutin in Bezug auf mein alltägliches Leben immer wieder fragte „was hat er genau gesagt?“, „was hast du genau gesehen?“, „wie waren die Gesten, die Gesichtsausdrücke, die Körpersprache“, „was ist genau passiert?“ und noch vieles mehr, dass wieder auf die genaue Beobachtung meines Lebens zielte. Statt der ungenauen, ein bisschen fantasierenden Vermutungen, mit denen ich ihr immer kam.

Mithilfe dieser Fragen habe ich geübt, wieder genau zu gucken, was geschieht. Oft schmerzhaft genau. Und mir nicht irgendetwas zu fantasieren, so wie in meinen Romanen, die ich so mochte.

Mittlerweile fürchte ich mich vor den Fantasien anderer und schaue kaum noch Filme und lese keine Romane mehr.

Held, Antiheld, Konflikt, Lösung oder offenes Ende. All das bietet das reale Leben, oder das, was ich dafür halte, ja auch zu genüge.

Dass Konfliktvermeidung für mich nicht funktioniert habe ich in all den vielen Jahren meines bisherigen Lebens auf verschiedene Arten gelernt.

Blind sein hülfe mir mitnichten. Mir bleibt nichts übrig als mit offenen Augen durch die Welt zu laufen und zu sehen, was ich sehe.

Alles Schöne, alles Hässliche, alles Widersprüchliche und auch alles Harmonische.
Vielleicht habe ich sogar die Wahl, was ich sehe.
Wer weiß das schon.
Ich, jedenfalls, gucke mal weiter.



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