Donnerstag, 15. Oktober 2020

Bald 60 - 23

Man sagt, sie seien die reichste Familie des Ortes. Neben den großen Bauernhöfen mit dem Park, der einmal im Jahr anlässlich einer Freiluftmesse für die Öffentlichkeit geöffnet wird, sollen ihnen ganze Straßenzüge gehören.

Immer wenn in der Gemeinde ein etwas größerer Betrag anonym gespendet wird, munkelt man, er sei von dieser Familie. Eine Bestätigung dafür habe ich nie gehört.

Eines Tages werde ich, etwa fünfzehnjährig, auf den Haupthof bestellt. Man sucht eine Babysitterin für das jüngste Enkelkind.

Obwohl ich mir nicht vorstellen kann, warum, werde ich für geeignet befunden und hole fortan viele Nachmittage den kleinen Nico ab und schiebe ihn durch die Straßen des Ortes. Er braucht frische Luft und der Großvater seine Ruhe.
Oft gehen wir zum Bahnhof. Der Kleine liebt den Lärm und die Zugluft der vorbeirasenden Güterzüge. Noch heute erinnere ich mich manchmal an diese leuchtenden Kinderaugen, wenn der vorbeifliegende Zug sein Gesichtchen verdunkelte und man selbst sein Juchzen nur am offenen Mund erkennen konnte.

Einige Male muss ich mit dem Kind an Mahlzeiten teilnehmen. Die Menschen am Tisch sitzen sehr aufrecht und den Tisch zu decken ist eine Wissenschaft für sich. Meiner Aufgabe, Nico und später auch seinen kleinen Bruder, korrekt zu füttern, komme ich junges Ding wohl nur allzu unzureichend nach. „Füttern Sie bitte auch das letzte Reiskorn! In diesem Haus wird keine Verschwendung geduldet!“ ist nur eine der Maßregelungen, die mich noch unbeholfener machen.

Zur Kaffeezeit gibt es für jedes Kind eine Tasse Kakao, für jeden Erwachsenen eine Tasse Kaffee und für jeden Anwesenden am Tisch ein Streifchen Butterkuchen. Immer den gleichen und immer nur ein Drittel dessen, was bei uns zu Hause „Stück Kuchen“ genannt wird.

Mein Stundenlohn ist irgendein sehr krummer Betrag, der alle paar Monate mit Buhei um ein paar Pfennige erhöht wird und bis zum Ende unter dem üblichen Stundenlohn bleiben wird.

Bei einigen sehr großen Festen mit Angehörigen verschiedener „VonundZu“-Familien, deren Namen in der Republik sehr bekannt sind, bin ich eine der Babysitterinnen, die den engagierten Kinderfrauen zur Hand gehen sollen.
Auch in dieser Rolle glaube ich, den an mich gestellten Aufgaben nicht gewachsen zu sein. Obwohl meine Arbeitgeber offensichtlich mit meiner Leistung zufrieden sind, wächst mein Gefühl des Nichtgenügens in einem solchen Umfeld immer mehr.

Den Umzug der jungen Familie mit ihren mittlerweile zwei Kindern in eine andere Stadt soll ich für einige Wochen in meinen Ferien begleiten.
Die Windpocken der Jungs sind geheilt. Mein Flug ist bereits gebucht. Die Planungen sind wie immer perfekt. Und ich wache am Tag des Abflugs mit Pusteln am ganzen Körper auf.
Obwohl die Dame des Hauses, in der Hoffnung, zu hören, dass ich doch fliegen könnte, selbst unseren Hausarzt kontaktiert, lautet die ärztliche Weisung: „bei Windpocken Bett hüten, keine Diskussion“.

So endete mein Engagement in Sachen Babysitting krankheitsbedingt abrupt und die Kinder sollte ich nie wiedersehen.
Wer weiß, was aus ihnen geworden ist. Zwei Mittvierziger. Vielleicht kurz vor der Midlifecrisis. Ob sie wohl ihre Teller bis auf das letzte Reiskorn leeren? Ich hoffe sehr, dass es ihnen gut geht und sie sich mittlerweile normalgroße Stücke Kuchen gönnen.

Sie werden sich wohl nicht an mich erinnern können. Ich jedenfalls denke immer dann an sie, wenn ich mit letzten Reiskörnern auf meinem Teller zu tun habe.

Manchmal wünschte ich, ich könnte sie einfach liegenlassen, aber das gelingt mir nie.




2 Kommentare:

  1. liebe Britta da hast du ja schon als ganz junge Jugendliche an der ARBEIT geschnuppert - bzw.eine Verantwortung übertragen bekommen die man noch heute kaum einer 15 jährigen zutraut, denn die haben doch in diesem Alter eher mit sich selbst genug zu tun -auch, um erwachsen zu werden, was ja auch ein Stück ARBEIT ist.
    Du hast sie so ernst genommen dass sich deine Wahrnehmung sehr deutlich auch auf das dir unbekannte Umfeld gerichtet, - viel gemerkt hast - und das bis heute, also hat es sichtlich Eindruck auf dich gemacht.
    sieh an, an all das erinnre ich mich bildstark, so wie du es beschreibst./sagst du dir wahrscheinlich selber.
    Wie alles was einem im Gedächtnis bleibt.
    Tolle Geschichte...We alt war denn der kleine Nico damals ?
    und was würde er sagen wenn du heute bei ihm vorstellig werden würdest?
    nur mal so hallo sagen...???
    herzlichst angel

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    1. Er war zwei bis vier Jahre ... und was er sagen würde? Er hat bestimmt in seinem Leben so viele Kinderfrauen und Babysitter gehabt, dass der Überblick schwer fiele. Ich vermute, es würde ihn nicht interessieren. Mich aber auch nicht. Ist einfach eine Geschichte meines Lebens, die sich noch zum Aufschreiben eignet, zu mehr aber auch nicht. :-))))
      + ja. heute würde man seine Kinder in dieser Weise wahrscheinlich keinem "Kind" anvertrauen ... damals war das ja anders ...

      herzliche Grüße an dich
      Brigitta

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