Mittwoch, 18. November 2020

Bald 60 - 40

August und Auguste Rogosch, geb. Rogosch.


Meine Urgroßeltern. Ich kannte sie nicht. Aber das Grab, den Grabstein und die Inschrift. Schlesier. Die Eltern meiner Großmutter, mütterlicherseits.
Vertriebene.
Vermutlich waren sie etwa so alt wie ich jetzt als ihnen die Heimat genommen wurde.

Im Viehwaggon sind sie gekommen. Meine Oma mit den beiden Töchtern, den Eltern und ich glaube der Schwiegermutter. Ihr Mann war in Gefangenschaft.

Die Töchter waren 11 und 13. Eine der beiden wurde krank im Auffanglager. Ansteckung. Die Oma entschied deshalb, mit „ alle Mann“ weiter zu ihrer Schwester zu reisen, die schon länger in Köln war.

Wenn ich den wenigen Erzählungen glauben darf, waren die Wohnverhältnisse dort dann mehr als beengt und die Neuankömmlinge nicht wirklich willkommen.

Sie besaßen nichts als sie kamen. Das Silberbesteck und die wenigen anderen Werte hatten sie vor dem Abtransport vergraben.
Ob sie von den nun dort lebenden Polen jemals entdeckt wurden? Sie selbst jedenfalls waren niemals mehr dort, um nachzusehen. Zu schmerzhaft sei das.

Gottseidank hatten sie während des Krieges, immer wenn es möglich war, Nahrungsmittel geschickt, denn davon gab es auf dem Land damals noch genug. Das hat man ihnen nicht vergessen.

Die Mädchen durften nach zwei Jahren ohne Lernmöglichkeiten wieder die Schule besuchen und erlebten dort, was Fremdenhass ist.

Sie hatten kaum Papier, Stifte oder Bücher. Während der Hausaufgaben strickten sie Strümpfe, die gegen Lebensmittel und anderes Notwendige eingetauscht werden konnten.

Als sie später einen Badeanzug brauchten, weil die Nachbarskinder sie mit zum See nehmen wollten, strickten sie sich den und schämten sich dann sehr, weil er nass ganz schwer am Körper hing.

Scham sind sie alle wohl nie ganz losgeworden. Die Notwendigkeit der anstrengenden Arbeit, nur, um anerkannt zu werden und einfach da sein zu dürfen, hat sie in meiner Wahrnehmung ebenfalls nicht verlassen.

Eines Tages kam der Großvater dazu. Einst ein angesehener Kohlehändler mit Landwirtschaft und jetzt ein kleiner Angestellter mit dem Krieg in den Knochen. Er hat das nicht verkraftet.

Die Großmutter hat wohl zeitlebens eine Zeitschrift ihres Heimatvereins abonniert und haargenau gelesen. So erfuhr sie noch manches von Menschen, die damals zu ihrem Leben gehörten.
Zu Treffen fuhr sie nicht. Nicht nur, weil sie bald schon sehr schwerhörig war. Sie wollte sich integrieren und verlangte das auch von ihren Töchtern. Wichtig sei das. „Passt euch an“, soll sie wohl gesagt haben. Und mindestens meiner Mutter ist das heute noch ein Anliegen. Anpassen, nicht auffallen.

Sie alle haben wenig erzählt von den alten Zeiten.
Nur Andeutungen, kurze Beschreibungen. Immer wieder die gleichen. Nichts drum herum.

Als die Russen kamen und die Urgroßeltern sich versteckten, haben die Mädchen ihnen Essen gebracht und sind beinahe erwischt worden. Heute, mehr als 70 Jahre später sehe ich, dass meine Mutter immer noch glaubt, schuld daran zu sein. Weil sie die Kleine war und zu unbedarft.

Als die Russen systematisch die Frauen vergewaltigten, hat die Oma sich Zöpfe geflochten und zwischen die Kinder gelegt. Ob die Täuschung geklappt hat? Wer weiß.

August und Auguste Rogosch, geb. Rogosch wurden in Köln beerdigt und ich kannte das Grab, weil ich mit der Oma manchmal dorthin fuhr. Gut gepflegt. Ich sehe noch die Umrandung und den Grabstein.

Laub sollte nicht sein, Unkraut wurde selbstverständlich regelmäßig gejätet, die Umrandung gefegt und die Bepflanzung musste zeitig getauscht werden. Jedenfalls solange die Oma noch hinkonnte, jedenfalls solange es das Grab gab.

Ihr eigenes Grab hatte dann eine Platte mit einer Schale. Nicht so pflegeintensiv und nicht so lange existierend.

Morgen besuche ich mit meiner Mutter das Grab ihrer Schwester, in dem diese mit ihrem Mann beerdigt ist.

Meine Mutter. Mittlerweile die letzte Überlebende der hier Beschriebenen.

Ich sehe sie noch im Wohnzimmer stehen, nach der Beerdigung ihrer Mutter vor vielleicht 15 Jahren und höre noch wie sie sagt „jetzt bin ich Vollwaise“, „mal sehen wie das wird“.

Seit dem Tode auch ihrer Cousine und ihrer Schwester ist sie nicht mehr die Kleine und vollintegriert in Kölle. Geschafft.

Fremd sind jetzt andere.



3 Kommentare:

  1. beeindruckend und sehr aufwühlend wenn man von früher erfährt und versucht nachzufühlen was damals gelebt wurde..
    Vieles steht als deutliches Bild hinter den Zeilen...
    stark be/und/ geschrieben....
    kann man sich in der heutigen zeit die in manchem so ähnlich erscheint
    auch nur annährend vorstellen
    wie das Leben damals war?
    herzlichst angelface

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    1. Ich glaube, man kann sich das nicht vorstellen. Ich jedenfalls nicht. Ich kann annähernd erspüren, was für die Weiterlebenden bedeutet hat, einfach weiterzumachen, ohne die echte Chance einer Verarbeitung .... Gruselig, traurig und schwer ...

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  2. Habe Dank und Gruß vergessen
    herzlichen Gruß und Dank fürs Kommentieren!

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