Dienstag, 17. November 2020

Bald 60 - 39

Es war ein langer Weg von der permanenten Schuldzuweisung zur sehr häufigen Akzeptanz dessen, was ist.


Als Grundschülerin bin ich gerne zur Schule gegangen. Auch Hausaufgaben habe ich gerne gemacht, oft sogar etwas, was Fleißaufgaben hieß.
Das lag wohl daran, dass ich so eine Art Fließbandarbeit liebe. Mit den Händen immer das Gleiche tun und dabei die Gedanken tanzen lassen.
Im Grundschulfall war das zum Beispiel beim Schönschriftüben immer noch eine Seite oder beim Rechnen alle Aufgaben, nicht nur die, die die wir machen sollten und Traurig Sein, wenn alle gelöst waren.

Einmal, ich war in der vierten Klasse, kam das vier Jahre ältere Nachbarmädchen dazu als ich gerade Fleißaufgaben machte. Als sie sah, was ich tat, lachte sie sich kaputt und prognostizierte, dass ich mir das wohl bald abgewöhnen müsse, weil das auf dem Gymnasium erstens niemand honorieren werde und ich zweitens dafür bestimmt auch ausgelacht würde.

Weil sie vier Jahre mehr Erfahrung hatte als ich, nahm ich an, dass sie Recht hatte und gewöhnte mir diesen fließbandartigen Fleiß, der mir so sehr entsprach und so große Freude verursachte für die Schulzeit ziemlich ab. Ich machte das Nötigste und keinesfalls mehr. Ausgelacht werden wollte ich keinesfalls.

Die Zeit auf dem Gymnasium war aus diesem und aus vielen anderen Gründen so eine Qual für mich, dass meine Mutter, wenn ich aus der Schule kam, die Fenster des Reihenhäuschens schloss, damit niemand meine Schimpftiraden hörte.

Permanent hatte ich jemanden am Wickel, den ich beurteilte, verurteilte, anders wollte oder der Dummheit überführt hatte. Kurzum, ich fand dauernd jemanden, der Schuld an meiner Misere war.

Wäre der Lehrer oder die Lehrerin aufmerksamer, wäre alles besser, wäre der oder die nicht so dumm, ginge es mir besser, wäre die oder die Regel logischer, könnte man sie auch befolgen. Und so weiter.

Heute glaube ich, dass meine Einschätzung des Systems, der Situationen und der Menschen oft gar nicht so falsch waren.
Und doch war mein Umgang damit für alle Beteiligten gruselig.

Ich fühlte mich den Verhältnissen und Beurteilungen an der Schule so dermaßen ausgeliefert, dass ich offensichtlich getillt bin.
Ich fühlte mich selbst so unpassend, dumm und ohnmächtig, dass ich das kaum ertragen konnte. Und um diese Gefühle nicht so sehr spüren zu müssen, habe ich mir all das im Außen gesucht und natürlich auch gefunden.

Als ich viele Jahre später wöchentlich zu meiner Therapie ging, führte mich die Therapeutin wohl zu den Gefühlen in mir, unterstützte aber auch die Suche nach Schuldigen für diese Gefühle.
Immer wieder ging es damals um den innerlichen und äußerlichen Ausdruck von, offenbar vergrabenen, Gefühlen, gegenüber den angeblichen Verursachern.

Was es brachte, waren ein paar Erkenntnisse, ein bisschen Erleichterung für den Moment, aber keinen nachhaltigen Frieden in mir oder wenigstens eine kurze Zufriedenheit mit mir, meinen Mitmenschen und den Situationen, in denen ich lebte.

Ich war noch lange in meinem Leben umzingelt von Leuten, die sich, da war ich mir sicher, falsch verhielten oder überhaupt falsch waren.

Ich war eine Meisterin der Außenprojektion. Wenn du nur anders wärst, dann wäre alles gut. Wenn du das und das dächtest und fühltest und tätest, dann könnte ich glücklich sein. Und so weiter.

Gottseidank habe ich im Laufe der vielen weiteren Jahre meines Lebens Schritt für Schritt Hilfen erfahren, Systeme und Konzepte kennengelernt, die mich wirklich zu mir, und damit aus der Ohnmacht, geführt haben.

Unter anderem habe ich gelernt, dass meine Gefühle offensichtlich die Folge von Gedanken sind und nicht die Folge von Taten anderer oder von Ereignissen und Situationen.
Man könnte sagen, dass meine Gedanken, Beurteilungen und Meinungen meine Gefühle erzeugen.

Und seit ich das weiß, fühle ich mich nur noch selten ohnmächtig. An meinen Beurteilungen und Meinungen kann ich ja selbst schrauben, und tue das nach besten Kräften kontinuierlich immer wieder.
Die und mein Verhalten sind ja meine Angelegenheit.

Wie die anderen sind und sich verhalten ist ja von mir nicht wirklich beeinflussbar und im Grunde einzig und allein deren Angelegenheit. Meine jedenfalls nicht.

Mittlerweile habe ich oft und oft geübt, mich meinen Gefühlen und Beurteilungen zuzuwenden und sie interessiert zu beobachten. Einfach so. Ohne sie auszuagieren und ohne sie anders zu wollen, einfach nur interessiert für einen Augenblick.

Mir scheint mittlerweile, dass alles und jeder einfach nur so sein, und gesehen werden, will, wie es oder er oder sie ist.

Und wenn mir gelingt, genau das zu tun und zu lassen, habe ich Frieden.

Jedes Mal.



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