Montag, 16. November 2020

Bald 60 - 38

 Angeblich weiß jeder über 40jährige, wo er zum Zeitpunkt des Mauerfalls und während "Nineeleven" war, was er tat und wie er sich dabei fühlte. Auf mich jedenfalls trifft es zu.


Als in meinem Fernseher, der in einer Ecke des Zimmers stand, die Menschen auf der Berliner Mauer lachten, tranken und sich umarmten, saß ich auf der am Boden liegenden Matratze in einem ansonsten ziemlich leeren Zimmer.

Der Mann mit dem ich bis kurz vorher noch zusammen in meiner Wohnung lebte, war ausgezogen und die gesamte Beziehung lag irgendwie auf Eis. Hätte ich damals meinen Beziehungsstatus Facebooklike benennen sollen, hätte ich „es ist kompliziert“ ankreuzen müssen.

Während sich da draußen die Welt in den Armen lag und, laut Kommentar über den Bildern, nun zusammenkam, was zusammengehörte, lag ich einsam, verlassen und alleine in diesem nun leeren Zimmer.

Die Diskrepanz zwischen meinem selbstmitleidigen Dasein und dem Bericht über die weltbewegenden, zusammenführenden Ereignisse hätte nicht größer sein können.

Tränen vergossen wir beide. Die Menschen in Berlin, die der Fernseher zu mir brachte und ich selbstverständlich auch. Nur aus sehr unterschiedlichen Gründen.

Im Jahre 2001 dann war ich bereits fast 10 Jahre mit dem Gatten verheiratet, die komplizierte OnoffBeziehung mit dem Mann von damals war längst Geschichte und wir lebten seit fast zwei Jahren im Wald auf Mallorca.
Unter anderem mit einem etwa Postkartengroßen Minifernsehapparat, den wir so gut wie nie in Betrieb hatten, weil der Solarstrom dafür kaum ausreichte und unsere Spanischkenntnisse damals noch wesentlich zu dürftig waren, um Sendungen wirklich folgen zu können.

Wir kauften jeden Montag den „Spiegel“, hatten telefonische Kontakte, Besucher, Klienten und trafen relativ regelmäßig Menschen an der Playa de Palma, wo ich während dieses Jahres ein Lädchen betrieb, dass allerdings so schlecht lief, dass wir es mangels Kunden nur nachmittags geöffnet hielten und dieses Experiment schon nach knapp einem Jahr beendeten.

Vieles vom damals aktuellen Tagesgeschehen ist wohl an uns vorbeigegangen. Vermisst haben wir nichts und waren uns auch sicher, dass wir es wohl erfahren würden, wenn etwas Weltbewegendes passieren würde.

Und so war es. Am Mittag des 11. September klingelte unser Telefon und eine unserer Klientinnen, die sich normalerweise nicht einfach so meldete, schrie ins Telefon: „Da fliegen Flugzeuge in Hochhäuser … Eine Katastrophe … Alle schreien … überall Rauch …“

Konkretes war nicht aus ihr herauszubekommen, also bemühten wir unseren Generator wegen Strom für unser Fernseherchen. Und so sahen wir die Bilder, die alle Welt sah. In sich zusammenfallende Türme und den beschriebenen Rauch samt schreiender ascheübersäter Menschen. Dadurch transportierte sich etwas von dem weltweiten Katastrophenbewusstsein auch in unseren bis dato höchst friedlichen Wald.

Ich habe mir die Katastrophe nicht lange angeguckt, sondern bin schon bald in den Wald hinters Haus zum Holzsammeln gegangen.
Die Scheite für unseren Kamin hat der Gatte all die Jahre mit Motorsäge und Hackebeil aus den umgefallenen Bäumen erzeugt, während ich mich im Winter fast täglich im Wald rumgetrieben habe, um Reisig und starke Äste zu sammeln, denn wir brauchten über den Winter viel Holz und ich fühlte mich dort immer besonders lebendig und glücklich.

Oft habe ich dabei aus voller Kehle Mantren gesungen. Immer in der Vermutung, dass das gut für die Gegend und auch gut für die Menschen und Situationen wäre, die sich dort aufhalten.

Während ich das also auch am Mittag des 11.9.2001 tat, sang ich auch gegen dieses grundsätzliche, diffuse Unbehagen an, das ich mit den Fernsehbildern aufgenommen hatte.

Am Nachmittag sind wir zum Laden an die Playa gefahren. Dort hatten natürlich alle ebenfalls davon gehört und/oder die Bilder gesehen. Und wir ergingen uns miteinander ausgiebig in Vermutungen über das, was wohl geschehen war und was daraus wird, in Erzählungen über die Türme, als es sie noch gab und in unterschiedlichen Ausdrucksformen unserer Schrecken.

Ich hatte viele Briefe und ein paar Päckchen nach Deutschland zu schicken. Dafür nutzte ich normalerweise einen Dienst, der sie gesammelt dorthin flog und da der Post übergab.
Ein paar Tage lang war nicht klar, ob dieser Dienst mit dem Flugzeug klappen würde oder nicht.

Die Unsicherheit hielt allerdings Gottseidank nicht lange an, denn auf den Flugverkehr waren wir auf der Insel ja alle angewiesen.
Die Kontrollen am Flughafen steigerten sich mit der Terrorbegründung erst nach und nach und die verrückte Vorschrift der begrenzten Flüssigkeitsmenge im Handgepäck wurde erfunden, durchgesetzt, ein paar Jahre später in Stein gemeißelt und niemals wieder aufgehoben.

Den Beginn und die Begründungen des in der Folge begonnenen Irakkriegs zwei Jahre später haben wir dann übers Internet verfolgt. Auf einem kleinen Laptop mit LAN-Kabel, noch ohne Flatrate, mit abgerechneten Minuten und der Notwendigkeit von Engelsgeduld beim Laden einer Website.

Heute braucht es für schreckliche Nachrichten und ihre Begleiterscheinungen keine Geduld mehr. Dank push up-Nachrichten und Eilmeldungen auf Smartphones und Laptops und jeder Menge Brennpunktsendungen im Fernsehen ist es gar nicht mal so leicht, einen Bogen um sie machen.

Ob allerdings aus dieser mittlerweile extremen Fülle etwas in ähnlicher Weise eindrücklich bleibt wie die beiden beschriebenen Ereignisse, ist wohl nicht mehr zu erwarten. Oder vielleicht doch?



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