Dienstag, 3. November 2020

Bald 60 - 36

Seit wann ich die Ecke ab habe, kann ich so genau nicht sagen. Vielleicht schon immer. Ich weiß es nicht.

Was ich aber ungefähr sagen kann, ist, seit wann man es sieht. Das muss so um 1995/96 herum gewesen sein.

Ich war schon lange überarbeitet, von Geld- und Kreditrückzahlungssorgen geplagt. Wir hatten lange sehr dumm über unsere Verhältnisse gelebt und waren sehr bemüht, uns aus dem Schlamassel zu befreien.

Aus zwei Läden hatte ich bereits einen Gemischtwarenladen gemacht. Modeschmuck, Geschenkartikel und Esoterik in einem.

Die Angestellte und auch alle Aushilfen waren schon länger entlassen. Die Rate des laufenden Geschäftskredits und alle nur erdenklichen geschäftlichen und privaten Kosten waren auf ein Minimum reduziert, und die Kurse und Einzelstunden der sehr gut laufenden Lebensberatungspraxis hatte ich auf gerade noch leistbare Höchststundenzahlen gepusht.

Der Gatte war arbeitslos geworden, weil das Institut, in dem er arbeitete, noch als Folge der Wiedervereinigung geschlossen wurde und für eine neue Stelle hätte er die Stadt wechseln müssen. Professorenstellen sind einfach rar gesät. Und einen Umzug oder getrennte Lebensräume wollten wir beide nicht, weil ich ja wegen ihm nun in „seiner“ Stadt die Läden und die Praxis hatte.

Im Grunde wäre absehbar gewesen, dass die großen Einsparungen, mit denen wir schon einige Zeit lebten und die mittlerweile sehr hohen Einnahmen aus der therapeutischen Praxis, eines Tages zur schwarzen Null führen würden, auch wenn sich der Laden nur tragen würde und im Grunde hauptsächlich Werbefläche für die Praxis wäre.

Doch ich war mit meinen Kräften dermaßen am Ende, dass ich das Licht am Ende des Tunnels nicht erkennen konnte.

Ich war schon einmal von jetzt auf gleich auf eine, in dem ganzen Desaster auch noch sehr dumm weite und teure Reise, gegangen, weil ich dachte, wenn ich jetzt nicht rauskomme, drehe ich komplett durch. Da das aber natürlich zu keiner langfristigen Erholung geführt hat, kam es zu dem Nachmittag, von dem ich heute erzählen möchte.

Morgens hatte ich von einem Vertreter für Esoterikartikel unter anderem Ohrkerzen gekauft und am Nachmittag hatte ich überraschend ein paar Stunden frei. Zwei Einzelstunden waren abgesagt worden, der Gatte hütete den Laden und bis zur Frauengruppe, die ich über Jahre jeden Dienstagabend anbot und durchführte, war noch Zeit.

Also beschloss ich, mal so eine Ohrkerze auszuprobieren. Natürlich habe ich in der Hektik, in der ich mich innerlich dauernd befand, auch, wenn eigentlich Zeit war, die Anleitung kaum gelesen, mir das Ding ins linke Ohr gesteckt und am körperentfernten Ende angezündet.

Während die Kerze nach und nach runterbrannte und was weiß ich für einen Effekt hätte auslösen sollen, hatte ich immer mal wieder den Impuls, sie herauszunehmen, war aber wie in allem anderen zu dieser Zeit, völlig gefangen in dem „Weitermachen“, „Durchhalten“, „Nur nicht aufgeben“.

Aufgegeben habe ich dann doch sehr plötzlich. Nämlich als meine langen Haare brannten. Und die Haut vom Ohr über den Hals bis zur Nase.

Gottseidank war eine Freundin, die ab und an unseren Gruppenraum gemietet hatte, mit einer Klientin oben, hörte mein Schreien und bald darauf sah sie die schwarzen Rauchschwaden, die ich beim mich selbst in der Gästetoilette Löschen, erzeugt hatte.

Sie hat dann einen Krankenwagen gerufen und die Sanitäter haben nicht lange gefackelt und mich trotz meines Protestes ins Krankenhaus gefahren.

Diagnose Verbrennungen dritten Grades auf der gesamten linken Gesichts- und Halshälfte inklusive Ohr.

Das Krankenhaus war im gleichen kleinen Städtchen wie unser Laden. Und hätte ich noch nicht gewusst, dass ich im Ort bekannt war, hätte ich es dort erfahren.
Der Raum, in dem ich behandelt und erstversorgt wurde war nicht klein, platzte aber aus allen Nähten, weil aus dem ganzen Haus Ärzte, Schwestern und Pfleger gucken kamen.
Die Geschichte, dass sich die verrückte Kölnerin mit dem „Eso“-laden auf der Ecke mit einer Ohrkerze! selbst ordentlich verbrannt hatte, verbreitete sich rasant.

Ich hätte im Krankenhaus bleiben sollen, konnte aber aushandeln, dass ich nach Hause durfte. Musste allerdings jeden Tag zum Verbinden wiederkommen. Wäre ich dort geblieben, hätte auch das sich vermutlich rumgesprochen und ich hätte wohl viele Besuche bekommen. Aber mir war ja eh alles zu viel.

Gottseidank hatte ich Freundinnen, die mich abwechselnd hingefahren und auch wieder abgeholt haben.
Der Gatte hat sechs Wochen lang den Laden und anfangs auch mich versorgt.
Nach zwei Wochen, als die Schmerzen dann erträglich waren, habe ich mit hübschen Tüchern um den Kopf, die Kurse und Einzelstunden wieder aufgenommen. Das Geschäft habe ich erst spät wieder aufgesucht. Und Ohrkerzen haben wir dort niemals verkauft.

Die Ärzte waren sicher, dass auf meinem Ohr und am Hals keine Haut mehr wachsen KANN. „Unmöglich“ sagte der Chefarzt, dessen ganze Familie bei uns Kunde war, und der fast täglich selbst meinen Verband wechselte und die Wunde versorgte.
Der Beratungstermin für die, aus seiner Sicht, zwingend notwendige Hauttransplantation, bei einem Kollegen von ihm, stand schon fest.

Damit es dazu nicht kommen sollte, habe ich alle Leute, die ich kannte, die Fernheilungen machten, mit Reiki arbeiteten, beteten und Ähnliches konnten und taten, gebeten, sich vorzustellen, dass auf den verbrannten Flächen wieder gesunde Haut ist und energetisch alles dafür zu tun, was sie konnten.

Ich selbst habe viel Zeit des Tages ebenfalls darauf verwandt, mir das Gewünschte vorzustellen, allerlei Heilungsmethoden genutzt und habe in winzigen Schrittchen auch äußerliche Veränderungen anzubahnen begonnen.

Es hat gedauert, aber es hat geklappt. Das Unmögliche ist passiert.

Innerhalb weniger Monate waren die tiefen Wunden geschlossen und nach und nach erholte sich die Haut, beziehungsweise wuchs aus dem Nichts.
Man sah schon nach wenigen Jahren so gut wie nichts mehr. Nur, dass ich „ne Ecke ab habe“, ist sichtbar geblieben. Am Ohr. Und das ist ja gut so.



2 Kommentare:

  1. liebe Brigitta, irgendwie "überlege" ich zwischendurch beim Lesen deiner vielfältigen Geschichten wie lange sie schon zurückliegen und ob du sie aus deinem gedächtnis hervorkramst oder sie " -irgendwo aufgeschrieben und oder archiviert hast, wie ich es bei anderen "geschichten erzählenden Autoren oft tue.
    /als wenn es wichtig wäre wann man sie erlebt hat, was es nicht ist wenn sie auf dem Papier stehen, Geschichten sind zeit - alterslos - geschehen und so empfunden wie man sie erlebte und denkt man an sie zurück, tauchen die Bilder dazu fast automatisch aus sdem gedächtnis auf.
    Ist dies nicht eine herrliche Einrichtung die uns geschenkt wurde?
    das Erinnern...
    immer wieder eine Freude
    ein Erlebnis
    eine Rückschau...

    herzlich Angelface

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    1. Diese hier liegt ungefähr 25 Jahre zurück. Ich habe sie bisher nirgends aufgeschrieben. Ein paar wenige kleine Versatzstücke gab es, die ich mitverwendet habe, aber das Meiste ist nagelneu aufgeschrieben.
      Manche Erinnerungen kommen, weil ich ja beschlossen habe regelmäßig zu schreiben und so klopfen sie an, damit ich was zum Schreiben habe :-)))
      liebe Grüße

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