Sonntag, 15. November 2020

Bald 60 - 37

Die Demonstranten bilden ein Spalier, durch das jeder Kongressteilnehmer, so er denn ins Innere des Gebäudes möchte, gehen muss. Auf dem Dach des Gebäudes haben sie rote Farbe verspritzt und sie rufen laut „Mörder“ und „stoppt sie“.


Es ist ein Kongress von und mit Wissenschaftlern, die allesamt im Dienste der Erkenntnisse für die Allgemeinheit mit Tieren Versuche machen oder für solche Versuche reine Tiere züchten.

Der zukünftige Gatte ist ein solcher Wissenschaftler und ich bin natürlich eigentlich bis dahin auf der Seite der Tierversuchsgegner gewesen.

Wir kennen uns erst kurze Zeit und mich interessiert alles, was er so macht.
Also bin ich mit nach Kiel gefahren. Und weil ich schon mal da war, wollte ich den Kongress auch wirklich erleben. Ich wollte hören, was die vortragenden Damen und Herren zu sagen hatten. Und wollte dann auch wissen, wie sie sich zu den Demonstranten da draußen stellten und ob sie sich überhaupt dazu stellten.

Der zukünftige Gatte hätte wohl im Normalfall dafür gesorgt, dass er von den wichtigen Menschen gesehen worden wäre, hätte seinen Vortrag gehalten und sich dann schöne Tage in der Stadt gemacht. Wie so viele andere dort auch. Normal.

Mir aber steckte der Marsch durch das Demonstrantenspalier in den Knochen und mich interessierte schon damals, ob es nicht eine Brücke zwischen den beiden Lagern gäbe.

Mein Fazit war ernüchternd. Schon damals ernüchternd. Die Brüllerei von draußen blieb draußen. Drinnen waren Menschen, die Häuser abzuzahlen hatten, deren Kinder in der Ausbildung waren, die berufliche Anerkennung brauchten und sich wichtige Erkenntnisse von den durchgeführten Versuchen und Forschungen versprachen.
Sie wähnten sich auf der richtigen Seite und ignorierten die da draußen, bzw. verurteilten sie für den Lärm, den sie machten und die Unannehmlichkeiten, die sie verursachten.

Im eigenen Zirkel gab es keine Zweifel. In der eigenen Blase, wie es heute hieße, fühlte man sich wohl. Jedenfalls so wohl, dass man nicht zweifeln musste. Im eigenen Club muss sich niemand rechtfertigen, der auf der gleichen Welle schwimmt und einfach mitmacht.

Die draußen mit ihren roten Farbbeuteln, den gebrüllten Vorwürfen und der Annahme, dass sie die Moral auf ihrer Seite hätten, fühlten sich natürlich auch richtig und wichtig unter ihresgleichen.
Wie sie ihren Lebensunterhalt und den ihrer Kinder oder zukünftigen Kinder heranschafften, weiß ich nicht.
Und ein Gespräch zweier Personen aus den unterschiedlichen „Lagern“ konnte ich leider auch nicht beobachten.

Schon damals hatte ich dieses Gefühl des zwischen den Stühlen Sitzens, das Verständnis für beide Seiten der Medaille und den großen Wunsch nach Brücken zwischen ihnen.

Beide hatten Argumente für die Richtigkeit dessen, was sie wollten und taten und für die Falschheit dessen, was die Gegenseite wollte und tat. Die Fronten blieben Fronten.
Für beide war ich die Verrückte.

Innerhalb unserer Ehe haben wir das Gespräch gesucht und gefunden. Mit harten Argumenten, gegeneinander, miteinander, mit und ohne Verständnis.

Den ersten Hund bekamen wir, weil ich den erhobenen moralischen Zeigefinger, ungeachtet der Tatsache, dass ich selbst bereits mehrere Katzen in Veränderungsphasen meines Lebens an Freunde und Familienmitglieder weitergeben hatte, nicht unter Kontrolle halten konnte.
Er sollte mal sehen, was es bedeutet, Verantwortung für ein Tier zu haben.
In der Folge war ich es dann, die sah, wie verantwortungsbewusst und liebevoll er mit dem Tier umging. Mutmaßlich liebevoller und verantwortungsbewusster als ich.

Und er suchte sich nach dem Verlust seiner Arbeitsstelle, die in Zusammenhang mit Tierversuchen stand keine vergleichbare neue. Gut so. Fand ich. Für ihn persönlich und für uns.

Ich bemühe mich, auch heute noch, auszuhalten, dass ich oft zwischen den Fronten stehe, zusammen mit dem wohl unausrottbaren Wunsch, es möge eine Brücke geben zwischen den beiden Seiten, die jeweils nur die eigenen Argumente und Sichtweisen für richtig halten und die andere Seite als komplett falsch verurteilen.

Selten, nur noch versuche ich die Vermittlung, selten nur noch suche ich das Gespräch mit Menschen, die so genau wissen, was richtig und was falsch ist, dass sie die in ihren Augen Falschen oder falsch Handelnden diffamieren und ausgrenzen.

Im günstigsten Fall gehe ich heutzutage einen Schritt zur Seite und betrachte mir die Chose von außen.
Es gibt ja kein Gesetz, dass ich durch ein Spalier gehen muss. Und oft auch keine Notwendigkeit in ein bestimmtes Gebäude zu gehen.

Verzichten ist ja möglich. Und in vielen Fällen auch entspannend. Für alle Beteiligten und vielleicht auch für die Situation im Ganzen. Wer weiß.



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