Dienstag, 22. September 2020

Bald 60 - 6

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In der Runde sitzen 10 Personen unterschiedlichen Alters, beiderlei Geschlechts und alle rekonvaleszent auf Hockern. Ich bin eine von ihnen. Wir sollen die Arme abwechselnd nach oben und über den Kopf führen. Wer das nicht kann, soll es so weit machen wie es geht und sich den Rest vorstellen. Immer wieder. Der Physiotherapeut erklärt es genau.

Dem Unterbewussten sei es egal, sagt er, ob wir die Übung wirklich ausführen oder nur bis zur schmerzenden Stelle und uns dann den Rest denken, fühlen und so innerlich ausführen. Er prognostiziert, dass es der Arm, den jemand jetzt infolge des neulich erfolgten operativen Eingriffs zum Beispiel nur bis zur waagerechten Stellung heben kann, bei regelmäßiger körperlicher Übung, bei der er sich den restlichen Weg intensiv innerlich vorstellt, denkt und fühlt, mit der Zeit immer höher schaffen kann.

Ich bin begeistert. Mir fehlt bei vielen Übungen nur ein winziges Stückchen. Ich hatte wie immer viel Glück. Die ungewollten Verletzungen während und nach meiner Kehlkopfentfernung hielten sich in leicht überschaubaren Grenzen.

Anderen ist es schlechter ergangen. Ihre Beweglichkeit ist ziemlich dahin und ich jubiliere ob der guten Tipps und Übungen dieses Therapeuten, der uns das Visualisieren sehr ans Herz legt und während dieser und ein paar anderer halbstündiger Sitzungen mit uns übt, auch und speziell für diese Personen.

Doch kaum sind wir nach solchen Sitzungen aus dem Raum heraus und außer Hörweite des Trainers, sind es gerade die, für die die Tipps vermutlich speziell gedacht waren, die extrem abfällig über die Naivität dieses, in meinen Augen, erfahrenen und klugen Behandlers äußern.

Kicksende Lacher, abwinkende Handbewegungen und „Tztztz“-Laute sind in der Kur, von der ich hier erzähle, sowieso erstaunlich oft an der Tagesordnung.

Viele scheinen nur dort zu sein, weil es die Kranken- oder Rentenkasse verlangt, konzentrieren sich darauf, dass das Essen dort aus ihrer Sicht Mist sei, die anderen ja alle alt und krank und sie selbst lieber zu Hause wären.

Ich wollte erst auch nicht dorthin. Als ich aber entschieden hatte, das Angebot der Krankenkasse anzunehmen – immerhin 4 Wochen Transport, Unterkunft, Kost, Vorträge, Sportangebote, Massagen, Erfahrungen, Entspannungen und ähnliches frei – war ich klugerweise einverstanden damit, dort zu sein und zu erleben und zu lernen, was es dort zu erleben und zu lernen gab.

Jeden Tag 20 Minuten Radfahren, irgendeine Gymnastik, eine Massage, 3 Mahlzeiten, in meinem Fall Logopädie und noch genügend Zeit bei Superwetter durch den angrenzenden Wald oder die Gartenschau zu latschen.

Ich kam viel fitter nach Hause als ich hingefahren bin. Und mir war die Bedeutung von Bewegung wieder klarer geworden.

Wir besitzen nun für die Regentage ein „Drinnen“rad, ein Rudergerät und natürlich Youtube mit den vielen Gymnastikkursen, die ich nur mitmachen muss. An den guten Tagen fahren wir mit den Rädern ne Runde durch echte frische Luft.

Musste ich nach den körperlichen Aktivitäten in dieser Kur ein paar Monate nach dem Krankenhausaufenthalt noch „ewig“ warten, bis der viel zu hoch geschnellte Puls auf ein gerade noch verträgliches Maß gefallen war, brauche ich das mittlerweile kaum noch kontrollieren.

Auch dass der Klinikchef, der neben körperlicher Aktivität im Alltag das Essen von Salat und Gemüse in seinen Vorträgen dringend empfahl, selbst ein gutes Vorbild war, hat mir gut gefallen. Ich habe ihn mehrfach mit einem großen Teller Salat aus dem Speiseraum auf der Treppe, die er statt Aufzug benutzte, getroffen.

Und auch die Warnschilder auf jeder Etage erinnere ich noch. Sie besagten, dass direkt neben den Sauerstoffgeräten, die viele in Wägelchen hinter sich herziehen mussten, um genügend Luft zum Atmen zu bekommen, nicht geraucht werden durfte. Der Mindestabstand sollte einen Meter betragen.

Daran hielten sich natürlich die Wenigsten. Und doch blieb es einfach nur bei diesen Schildern.

Raucher ist Raucher. Daran ändert ja eine herausoperierte Lungenhälfte nichts, oder sollte es?

Man hat dort offensichtlich gelernt, Angebote zu machen und ansonsten die Menschen zu lassen wie sind, sein wollen oder sein müssen.

Ich sah in den Rauchergrüppchen außerhalb des Geländes auch einige rauchende Kehlkopflose. Entweder hielten sie sich die Zigarette vor das Tracheostoma, so kommt der Rauch in die Lunge oder rauchten wie üblich. Allerdings ist dann das Ziel ja der Magen. Ob das allen wirklich klar ist?

Vor meiner Operation war ich fast 40 Jahre lang eine dieser „eingefleischten“ Raucherinnen. Meine Versuche, damit aufzuhören, waren allesamt halbherzig und haben nie länger als einen Tag, wenn überhaupt, geklappt.

Aber zum Glück habe ich, seit ich das Loch im Hals habe, nie mehr eine Zigarette angefasst. Ich verstehe die Weiterraucher, bin aber froh, dass ich nicht dazu gehöre.

Für mich musste es heftig kommen. Und das kam es ja Gott sei Dank auch.

 


2 Kommentare:

  1. es ist sehr interessant gerade nach solch einer sehr schwierigen OP die weiterführende Behandlung/Reha/Kur mitzulesen und zu verfolgen, damit es sich ein Nichtoperierter auch vorstellen kann.
    Je nach Typus Mensch fügt, akzeptiert und orientiert man sich neu in ein anderes Leben oder läßt es und versucht wie vordem weiterzuleben deshalb ist es für andere schwer einschätzbar was Du und andere mit ähnlichen OP`s durchgemacht haben.
    Wie lange, darf ich fragen ist die OP und Reha her?
    Mich würde auch sehr interessieren wie du im Alltag damit zurecht kommst, meine Hochachtung wenn man sich sein sonniges Lächeln und der Freude am Leben nicht allzu oft beeinträchtigen lässt...
    ganz liebe Grüße Angelface

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    1. Die Op war im Mai 2018 und die Reha September/Oktober im gleichen Jahr. Und danach war ich nochmal 3 Wochen im Krankenhaus, um mir die Sprechventilfistel wieder verschließen zu lassen. Hat Gottseidank auch prima geklappt. Wenn du die Krankengeschichte und die Fortsetzung mit der Fistel lesen möchtest, findest du sie dort: https://dasistschlimmoderfantastisch.blogspot.com/2018/11/wie-ich-zur-kehlkopflosen-halsatmerin.html und die Fortsetzung dort: https://dasistschlimmoderfantastisch.blogspot.com/2018/12/manchmal-ist-weniger-mehr-oder-adieu.html
      Insgesamt ist es mittlerweile so, dass ich super zurecht komme und mich im Grunde gesund fühle. Ich atme halt nicht mehr durch Mund und Nase, sondern durch das Loch im Hals und spreche mit einem Stab, den ich mir unters Kinn halte.
      Ich bin froh, dass es diesen Bruch in meinem Leben gab, er hat zu viel Gutem geführt und bin sehr dankbar, dass alles so gut geklappt hat.
      Ärzte können Zauberer sein.
      Dank dir herzlich für dein Interesse und deine vielen detaillierten Kommentare. Ich freue mich lieben Gruß Brigitta

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