Ich bin Fünf. Fünf Jahre alt und kann schon zählen. Bis zwanzig. Und das tue ich auch. Ich zähle, wo ich gehe und stehe.
Die Kacheln,
die Muster, die Zweige der Bäume und Blättchen der Gänseblümchen. Abends
schiebe ich mich gerade so weit an das Ende des Bettes, dass ich den Vorhang
beiseiteschieben und nach draußen sehen kann.
Dann sind
die Straßen leerer als am Tag. Weniger Autos. Kaum Menschen. Mich faszinieren
die Lichter. Sieben Straßenlaternen gibt es in meinem Blickfeld. Eine flackert
schon seit langem. Aber ich zähle sie trotzdem mit. Die große Auslage des
gegenüberliegenden Geschäfts zeigt viele Dinge. Oft mehr als ich zählen kann.
Ich tue es trotzdem. Muss ich halt oft wieder bei eins beginnen.
Während ich
so zähle liege ich im Etagenbett. Im Wochenwechsel schlafen wir oben oder
unten. Die Schwester und ich. Oben ist besser. Von oben sieht man mehr. Wenn
ich mich dort ganz weit aus dem Bett lehne, den Kopf nach links drehe und mich
mit der Nase an der Scheibe halte, sehe ich den Kletterbaum, der mir am Tag so
viel Freude macht.
Oft sitzen
wir alle im Baum und erzählen uns Geschichten. Ich auf dem zweiten Ast von
unten, manche sogar noch höher. Manchmal sagen die Mütter zueinander „wie gut,
dass sie so schön spielen und sich vertragen“ und zu uns dann „passt bloß auf,
dass ihr nicht runterfallt“. Ansonsten kümmern sie sich um ihre Haushalte.
Diese Szene
fällt mir immer mal wieder ein, wenn wir mit dem Fahrrad eine kleine Tour an
der Rur, die man tatsächlich ohne H schreibt, machen und den pensionierten
Ornithologen treffen.
Er ist stets
aufgeregt, redet mit jedem, der ihm über den Weg läuft und zählt die Enten,
Gänse und Vögel auf dem Wasser und an den Ufern. Er hat das viele Jahrzehnte
beruflich gemacht und jetzt hilft er noch.
Gestern
machte er uns auf die Nilgans aufmerksam. „Gar nicht hier heimisch“, „viel zu
Viele“ und „sind zum Abschuss freigegeben“.
Bei Abschuss
steige ich ein und frage „Alle?“. “Aber nein“, sagt er in einem Tonfall, der
dem ähnelt, mit man dumme Kinder bedenkt, denen man das eigene Denken nicht
zutraut. „Natürlich nicht“. "Nur ein gewisses Kontingent".
Er hätte
schon 7 Schüsse gehört. Und das seien ja nur die, die er selbst gehört habe.
„Aber“, so versichert er uns, „das wird natürlich kontrolliert“.
Wie, frage
ich ihn nicht. Er wirkt so überzeugt, dass es nötig und auch möglich ist, dass
ich ihn nur interessiert beobachte.
„Das sind
einfach zu viele“. „So geht das nicht weiter“. „Die mussten so entscheiden“.
„Natürlich“. Von diesen abgehackten Aussagesätzen folgten noch einige, dann
ging er zählend weiter.
Als er am
Horizont verschwunden war, bewegten wir noch einmal den Sachverhalt hin und
her. Er fand ja, dass Gänse, weil sie so viele sind, erschossen werden müssen.
Und das findet er zusätzlich sehr tragisch. Wir sagten einander, natürlich nur
unter uns und natürlich nur als eine Möglichkeit, dass die Menge Gänse ja
niemand erfahren hätte, hätte er nicht gezählt.
Wir zum
Beispiel hatten ja an diesem Tag erst die allererste Nilgans gesehen und wir
fahren oft an dem Flüsschen entlang.
Man könnte
also auch sagen, sie werden erschossen, weil er gezählt und gemeldet hat. Aber
das ist natürlich verrückt von uns.
Heute bin
ich viel älter als 5 und zähle immer noch oft. Einfach nur für mich. Schritte,
Kacheln, Muster, Menschen. Manchmal, wenn ich abzuheben drohe, hält mich das
Zählen am Boden. Weil das so schön konkret ist. Da kann ich mich dann dran
festhalten.
In alten
Zeiten als ich noch täglich große Mengen Ketten und Armbänder gefädelt habe,
habe ich es geliebt sie, im Falle der Ketten, in 10er Blöcken aufzuhängen und
zusammenzubinden, oder die Armbänder zu zehnt in eine Tüte zu tun.
Statistiken
mag ich auch. Einfach, um der Statistik willen. Zahlen aufschreiben,
nachhalten, in Tabellen eintragen, Diagramme daraus zaubern finde ich herrlich.
Manchmal
interessiert mich das Ergebnis der ermittelten und eingetragenen Zahlen, und
manchmal nehme ich mir ein Ergebnis vor und verwende die ermittelten Zahlen
dann in der Statistik so, dass das Ergebnis dabei herauskommt, das ich haben
wollte.
Beides macht
Spaß und es ist natürlich schön, dass beides möglich ist. Aber auch das mache
ich natürlich nur für mich.
Eben habe
ich wieder aus dem Fenster geschaut, während ich hinausgesehen habe, war die
Ampel siebenmal rot und achtmal grün. Einmal hat jemand bei Rot die Straße
überquert. Passiert ist nichts. Das ist ja auch nicht immer so.
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