Vor 14 Jahren sind der Gatte und ich zurück nach Deutschland gezogen. Auf meinen Wunsch hin in die Gegend, in der meine Eltern nach wie vor lebten. Denn schon damals waren sie nicht mehr "die Jüngsten" und ich konnte mir vorstellen, dass sie eines Tages über Beistand oder Hilfe aus der Nähe froh sein würden.
Bis Anfang diesen Jahres war wenig Konkretes notwendig. Grundsätzlich waren sie froh, einander zu haben und irgendwie trotz Pflegegrad 2 und Rollator auf Mutters Seite, weitgehend ohne viel Hilfe von Außen zurechtzukommen. Ihnen schien zu reichen, dass sie wussten, dass ich da wäre, wenn es notwendig würde und bis dahin sollte es nicht mehr als regelmäßige nicht zu häufige Besuche geben und bei mir reifte die Sorge, dass ich unter diesen Umständen wahrscheinlich nicht zu echter Hilfe fähig wäre, sollte sie doch eines Tages nötig sein.
Das alles sollte sich Mitte März diesen Jahres plötzlich von einem Moment auf den anderen ändern.
Mittlerweile waren beide fast 90 Jahre alt und hatten auch mich fast soweit, dass ich glaubte, sie werden ähnlich wie meine Großmütter die 95 und 100 Jahre alt wurden, ewig so weiter vor sich hin leben.
Eines Tages im März war ich zu einer bestimmten Zeit zum Kaffeetrinken im elterlichen Haus angekündigt. Ich war wie immer mit der früheren Bahn gefahren, um auf jeden Fall pünktlich zu sein. Normalerweise spazierte ich bei zu früher Ankunft bis zum verabredeten Zeitpunkt durch die Gegend, um nicht zu früh zu stören.
An diesem Tag zog es mich auf direktem Weg viel zu früh ans Ziel.
Dort angekommen, finde ich meine Mutter auf der Eckbank sitzend. Sie bemerkt kaum die Blumen, die ich, noch in Schal und Jacke, in eine Vase stelle und sagt statt dessen "Heute ist mir ganz komisch". Sie hatte offenbar schon zu Beginn ihrer Mittagspause einen kribbelnden Schmerz unter der linken Achsel und im Arm gehabt. Dagegen hatte sie tatsächlich noch Kühlpads benutzt, war nach einer Stunde nach unten in die Küche gegangen, hatte noch Kaffee aufgesetzt und saß nun seit einer Minute dort auf der Eckbank.
Als ich bemerkte, dass sie kreideblaß war und kalten Schweiß auf der Stirn und am Körper hatte, kippte sie auch schon augenrollend nach hinten.
Während ich sie bequemer legte, rief der Vater auf meinen Befehl hin einen Krankenwagen. Dann ging alles schnell. Zu den Sanitätern kam die Notärztin. Untersuchung, Zugang und erste Medikamente noch im Haus, mehr Behandlung im Krankenwagen und dann mit mir und Blaulicht in die Uniklinik.
Als sie aus dem Wagen ins Gebäude gebracht wurde war sie aschfahl und ich war nicht sicher, ob sie noch lebte.
Nach einer halben Stunde erfuhr ich im Wartebereich der Notaufnahme, dass sie "der akute Herzinfarkt" war und wohl "alles gutgegangen war".
Wenige Stunden später fanden wir beide uns ziemlich munter auf der Intensivstation des Herzzentrums der Uniklinik wieder.
Nach Hause sollte sie nie mehr wieder zurückkehren.
Sie hatte nun zwei Stents, in den Folgetagen hatte sie Vorhofflimmern, Atemnot, Wasser in Lunge und mehr und mehr Durcheinander im Körper. Es folgte Untersuchung auf Untersuchung. Bald war klar, dass zwei ihrer Herzklappen nicht mehr funktionierten. Verlegung in ein Rehakrankenhaus. Es gab ein vages: wenn das Wasser regelmäßig medikamentös aus dem Körper ausgeschieden werden kann und sie sich erholt, könnte eine Klappe (vielleicht) operiert werden. Weitere Untersuchungen, Behandlungen, Hoffnungen bei Vater und Schwester. Sie selbst ahnte früh, dass ihre letzten Wochen oder Monate begonnen hatten.
Nach etwa 6 Wochen entschuldigte sie sich, mittlerweile auf den Rollstuhl angewiesen, bei meinem Vater, dass sie nicht mehr kann und bat darum, dass wir ihr einen Platz in einem Pflegeheim besorgen.
Zu der Zeit konnte sie wohl selbst noch von Bett in Rollstuhl wechseln und kurze Zeit noch in gleicher Weise selbständig zur Toilette fahren.
Beim Umzug ins Heim nach etwas 8 Wochen war sie wegen oder trotz vieler Mobilisierungsversuche so gestresst oder geschwächt, dass die Pfleger schon Mühe hatten, sie vom Krankenhausrollstuhl in den Transportstuhl zu "hieven".
Zum Glück wurde sie im Heim auch als kompletter Pflegefall aufgenommen. Wir hätten die Pflege zu Hause aus vielen Gründen niemals leisten können. und Gottseidank hatten die wunderbaren Damen des Sozialdienstes des Rehakrankenhauses auf meine Nachfrage und die Fürsprache des letzten behandelnden Arztes ein ambulantes Palliativteam verordnet und beauftragt, das uns allen bis zum aller letzten Tag wunderbar geholfen hat.
Am dritten Tag im Heim konnte sie sich nicht mehr bewegen, nicht sprechen und keine Augen öffnen. Wir fanden einen Pfarrer, der ihr die Krankensalbung spendete. Während des Rituals gab es kleine Zeichen, dass sie erlebte, was geschah und in der Folge erholte sie sich tatsächlich so, dass sie wohl komplett bettlägerig blieb, aber die meiste Zeit klar erlebte, was geschah.
Meine Schwester und ich wechselten uns mit Besuchen an den Vormittagen der Woche ab und der Vater hatte noch ein halbes Jahr lang ganz geregelte Nachmittage und Wochenenden in ihrem Zimmer an ihrem Bett.
An vielen Tagen waren wohl auch schöne Gespräche möglich und sie konnte ihm noch manch drängende Frage zum alltäglichen Leben beantworten, um die er sich bis dahin nie gekümmert hatte.
Er hatte noch niemals alleine gelebt. Und nun fand er sich, tatsächlich völlig unvorbereitet, weil er bis dato jeden noch so kleinen Gesprächsfetzen über Alter, Krankheit und Tod vehement abgelehnt hatte, in dieser für ihn zunächst panikbesetzen und schrecklichen Situation wieder.
Im Laufe der Zeit wuchs er tapfer Schrittchen für Schrittchen, mit ihrer und der töchterlichen Hilfe, in das sich immer wieder verändernde neue Leben hinein, dass sich nun am vorvergangenen Dienstag Abend unwiderruflich nochmals geändert hat. Nun ist er Witwer
In den letzten Wochen wurde Mutters Körper immer fülliger, da sich die entwässernden Medikamente kaum ohne weitere noch offensichtlichere Nebenwirkungen steigern ließen. Die Sprache wurde undeutlicher, sie aß immer weniger, das Gedächtnis ließ sie immer häufiger im Stich und immer wieder sagte sie "jetzt habe ich keine Lust mehr, ist das schlimm?"
Ich bin ihr dankbar, dass ich sie sehr oft besuchen durfte, dass sie meine Massagen mochte, dass sie mir bei allem, was ich für sie und den Vater geregelt habe, vertraut hat und dass wir einfach beieinander sitzen konnten, und sie offenbar auch das mochte.
Anfang November habe ich begonnen häufiger und länger als bisher bei ihr zu sein. Sie sprach nur noch wenig und wenn, dann war das Meiste nicht aufs erste Hören zu verstehen. Sie mochte nicht mehr in den Spezialrollstuhl, in den sie manchmal mit Lift gehoben worden war. Nicht mal dem Vater zu liebe, nicht mal mehr das.
Sie lag in ihrem Bett, wurde wegen ihres Dekubitus am Steißbein weiterhin von links nach rechts gedreht und hatte, begleitet von den genuschelten Worten "ich döse dann jetzt", oft ihre Augen geschlossen.
Am Sonntagabend, 2 Tage vor ihrem Tod, sprach sie plötzlich, wohl mit geschlossenen Augen, aber laut und deutlich mir mir.
Das ist das Gespräch:
"Ist denn jetzt alles gut?" "Ja. Alles ist gut!" Lange Pause
"Ist denn jetzt alles erledigt?" "Ja. Ich glaube: ja" Lange Pause
"Ich habe beide Konten leer gemacht!" "Meinst du Lebenskonten?" "Ja, auch."
"Muss denn jetzt noch was gemacht werden?" "Nein, nein! Du hast alles zu einem guten Ende geführt"
"Danke Brigitta" "Danke dir!"
Stille.
Bald danach sind der Vater und ich gegangen.
Am nächsten Morgen bin ich sehr früh wieder bei ihr gewesen. Der Pfleger sagt, sie hat den Mund so zugekniffen, dass es unmöglich war, ihr die Medikamente zu geben, sie sprach nicht mehr und die Augen blieben geschlossen.
Bis zum Mittag habe ich still neben ihr gesessen, die aussetzende und die doch wieder einsetzende Atmung beobachtet, ihre Hand gehalten und gebetet.
Am Mittag wurde die Atmung deutlich rasselnd und wirkte plötzlich sehr angestrengt. Als ich den Pfleger holen wollte, mit der Bitte den Palliativdienst zu informieren, kam die Palliativschwester von selbst gerade zur Tür herein. Dann ging alles wieder schnell. Mutters Medikamente wurden nun auch offiziell abgesetzt und sie bekam die erste halbe Ampulle Morphium. So sollte es weiter gehen. In regelmäßigen langen Abständen eine halbe Ampulle. Mir wurde eindringlich geraten, meine Schwester zu informieren. Finale Sterbephase mochte die allerdings nicht glauben.
Der Vater und ich blieben bei ihr bis zum späten Abend. Noch beruhigten die regelmäßigen Spritzen sowohl ihr Gemüt als auch die Atmung. Der Nachtpfleger riet uns, zu Hause ein paar Stunden zu schlafen. Nach eine Stunde zu Hause erreichte mich eine Nachricht meiner Schwester. Eben dieser Pfleger hätte sie angerufen. Nach der nächtlichen Morphiumspritze hatte er nun doch den Eindruck als könnte es schnell gehen. Dort angekommen war klar: Fehlalarm.
Meine Schwester ging am Morgen als der Vater kam und wieder wechselten wir beide uns an Mutters Hand ab.
Dieser Dienstag war ihr Namenstag, ein Tag, der bei Katholiken offenbar eine solche Bedeutung hat, dass der in der Pfarrei der Eltern zuständige Seelsorger zum Gratulieren kam. Als er, der nichts von der Zuspitzung der Situation gewusst hatte, die veränderte Situation erfasst hat, packte er seine Gebetsutensilien aus, spendete ihr erneut eine Krankensalbung (früher letzte Ölung genannt) und betete mit Vater und mir zusammen einen Rosenkranz nach dem anderen. Immer wieder. Lange. Ab und an fragte er nach meiner Schwester. Er glaubte, sie wartet auf sie.
Als er am Nachmittag ging, wurde ihre Atmung, die schon einige Zeit sehr angestrengt wirkte, immer lauter und rasselnder. Als ich den Pfleger bat, den Palliativdienst zu informieren, verordneten/erlaubten sie Gottseidank eine frühere Morphiumspritze mit höherer Dosis.
Als meine Schwester zu Ablösung kam hatte sich Mutters Atmung etwas beruhigt, ich habe ihr wie immer über den Kopf gestreichelt, "Tschüss" gesagt und bin nach Hause gefahren.
Dort angekommen, bekam ich die Whatsapp mit der Nachricht: "sie hat es geschafft".
Die wunderbare Palliativpflegerin, meine Schwester und mein Vater haben sie gewaschen und umgezogen.
Am nächsten Morgen haben wir alle Drei die Ärztin empfangen, das Beerdigungsunternehmen informiert und während der Wartezeit auf die Abholung ihres Körpers in aller Ruhe um "sie" herum das Zimmer leergeräumt und sind dann praktisch mit ihr zusammen aus dem Heim ausgezogen.
Ich bin sehr dankbar für die geschenkten 8 Monate nach ihrem Herzinfarkt. Zu Lebzeiten bis dahin hatten wir kein einfaches Verhältnis. Ich war eine Herausforderung für sie und sie für mich. Oft sind wir damit nicht besonders gut umgegangen.
Meine Schwester würde sagen, die Mutter hat in der letzten Zeit "viel Vergebungsarbeit geleistet".
Ich sage, die letzten 8 Monate, in denen sie ihr Schicksal so geduldig ertragen hat und in denen sie so nett, liebenswert und liebenswürdig zu allen, auch zu mir war, hätten mir das vergeben und vergeben bekommen so leicht gemacht, dass es gar nicht mehr nötig war.
Die "süße Frau" der letzten 8 Monate hat die Mutter der mehr als 60 Jahre davor völlig "überschrieben".
Nun ist alles gut und erledigt. Sie hat beide Konten leer gemacht. Danke.
liebe Brigitta lange nichts mehr von dir aktuell gehört und nun hast du deine Mutter in den letzten 8 Monaten bis zu ihrem Ende berührend begleitet. Ein großer Trost für die Dagebliebenen ist es immer wenn beide ihren Frieden miteinander gefunden haben, der vorher nicht so gegeben war. Mein herzliches Beileid für dich und deinen Papa der sich nun in sein eigenes Leben hineinfügen muss, ohne sie, die ihren Frieden in letzter Ruge nun gefunden hat. Unsre Gedanken werden sie durch dich immer begleiten.
AntwortenLöschenich wünsche dir Kraft und innere Ruhe auch für dich...
herzlich angelface
Ganz herzlichen Dank liebe angleface. Genauso wie du es schreibst, empfinde ich es auch. Mein Vater wird seinen Weg finden. Er macht einen relativ stabilen Eindruck. Auch er hat von den 8 Monaten "Vorlauf"/beginnende Umgewöhnung ... profitiert. Sie hat uns allen Geschenke gemacht. Nochmals herzlichen Dank und dir alles Liebe
Löschendas ich gut dass du deine Ruhe und den Frieden damit gefunden hast, das ist wichtig fürs zurückbleiben...und egal woran man glaubt - ob an das schwarze Nichts danach oder an die Wolken wo sich die Seelen miteinander unterhalten...der FRieden ists letztendlich der so wichtig für uns alle ist und dass wir ihn - * in uns finden..wenn andere vor - uns gehen -
AntwortenLöschenschön, dass du mir darauf geantwortet hast..es tat sich ja lange nichts mehr bei dir...ich danke dir...
herzlich angel